Seitdem ich vor über 10 Jahren Marshall Rosenberg, dem Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, begegnet bin, bin ich ja ein bekennender Fan von empathischem Zuhören.
Es schafft in Sekundenschnelle eine Verbindung, es wirkt beruhigend und entspannend, es bringt Klarheit und es entschärft Konflikte. Eine rundum segensreiche Sache, sollte man meinen, und doch höre ich oft den Einwand: “Aber…mache ich damit eine Geschichte nicht wahr?”
Damit gemeint ist, ob ich jemanden, dem es gerade nicht gut geht, nicht in seinem Leiden bestätige, anstatt ihm herauszuhelfen. Nehmen wir als Beispiel einen Mann namens Kurt, der schon länger eine schwierige Beziehung zu seinem Nachbarn hat. Nun hat der Nachbar ohne Vorwarnung kurzerhand eines Nachts Kurts lange gehegten Obstbaum an der Grundstücksgrenze abgesägt, weil vom Baum Fallobst und Laub auf seinen Rasen fielen.
Kurt ist außer sich und regt sich auf. Als er mir von dem Vorfall erzählt, läuft sein Gesicht rot an und er schimpft: “So ein Blödmann! Was erlaubt der sich! Das ist eine Frechheit! Dreist! Das lasse ich mir nicht gefallen!”
Durch die analytische Brille betrachtet könnten wir Kurt nun ein Opferbewusstsein attestieren. Er sieht sich als Opfer seines Nachbarn. Und wenn ich ihm empathisch zuhöre, verfestige ich das Opferbewusstsein dann nicht?
Probieren wir es doch einfach einmal aus. So könnte es aussehen, wenn ich Kurt Empathie gebe:
Ich: “Mensch Kurt, du bist ganz schön wütend, was?”
Kurt: “Ja klar! So ein Arsch! Sägt einfach meinen schönen Baum ab!”
Ich: “Das war ein Schock für dich, oder?”
Kurt: “Ja aber hallo! Ich gucke morgens aus dem Fenster, und der Baum ist weg!”
Ich: “Und dabei war das doch dein Lieblingsbaum!”
Kurt: “Ja!”
Ich: “Da bist du bestimmt auch traurig.”
Kurt (wird ruhiger):”Hm, schon. Den Baum haben wir damals zur Hochzeit bekommen, und ich habe ihn seit 15 Jahren gehegt und gepflegt.”
(Stille)
Ich: “Es wäre schön, wenn ihr euch mit dem Nachbar besser verstehen würdet, oder?”
Kurt: “Das habe ich schon aufgegeben. Du siehst doch, wie er ist! Blödmann!”
Ich: “Du kannst dir gar nicht mehr vorstellen, dich mit ihm zu verstehen? Vor allem wegen der Sache mit dem Baum?”
Kurt: “Richtig. Mit dem zu reden ist doch zwecklos.”
Ich: “Du bist bestimmt enttäuscht, weil du eigentlich gerne ein gutes Verhältnis hättest?”
Kurt: “Eigentlich – ja. Wir haben ihn ja damals auch extra zur Einweihung eingeladen.”
Ich: “Wahrscheinlich wünschst du dir, er würde deine Gesten anerkennen?”
Kurt: “Ja! Ich will ihm doch gar nichts Böses!”
Ich: “Das muss echt frustrierend für dich sein….”
Kurt: “Ja, danke!! Es tut echt gut, das einfach alles mal loszuwerden….”
An diesem Punkt spürt Kurt seine Trauer und seine Frustration deutlich. Er ist nun nicht mehr wütend und denkt nicht mehr über Rache an dem Nachbarn nach. Stattdessen überlegt er, wie er dem Nachbarn seinen Schmerz über den Baum und seinen Wunsch nach einem besseren Verhältnis kommunizieren kann.
Er fühlt sich nicht mehr ausgeliefert, sondern ist wieder in Kontakt mit dem, was er wirklich will. Das gibt ihm neue Kraft und neue Ideen – und eine realistische Chance darauf, seinen Nachbarn zu erreichen.
Dieses Szenario ist fiktiv, zeigt aber deutlich, was Empathie bewirkt. Am Ende bringt sie nicht etwa eine Zementierung eines Opferstatus oder einer negativen Einstellung, sondern ganz im Gegenteil, sie öffnet und schafft den Raum für etwas Neues.
Wie gelingt ihr das?
Wie du beim Lesen des Dialoges vielleicht gemerkt hast, habe ich “die Geschichte” von Kurt mit keinem Wort bestätigt. Ich habe ihm nur Fragen nach seinen Gefühlen und nach seinen Bedürfnissen gestellt, die ihm geholfen haben, unter seinem Ärger wieder mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Dadurch konnte Kurt letztlich auch spüren, dass sein eigentlicher, tiefer liegender Wunsch ein gutes Verhältnis mit dem Nachbarn war.
Empathie hilft Menschen also, zu sich selbst zurückzufinden. Empathie bewertet nicht und versucht nicht, dem anderen einen Ratschlag zu geben oder ihn von einer bestimmten Sichtweise zu überzeugen. Empathie signalisiert dem Gegenüber, vollkommen in Ordnung zu sein, welche Gefühle und Gedanken ihn auch immer gerade beschäftigen mögen.
Wer empathisch zuhört, ist außerdem präsent, und hilft dem Gegenüber durch die eigene Präsenz, selbst wieder präsent zu werden.
Mit Hilfe alle dieser Elemente entsteht ein Raum, um die Situation anzunehmen, zu verarbeiten und in konstruktives Handeln zu kommen.
Zusammengefasst könnte man sagen:
Empathie ist eine Haltung der bedingungslosen Annahme des anderen.
Und sie ist ein Vertrauen darauf, dass im anderen ein guter Kern existiert, der vielleicht momentan nicht sichtbar ist, aber wieder zum Vorschein kommen wird.
Diese wertungsfreie und wohlwollende Art der Begegnung ist für den anderen spürbar, und er hat nicht wie sonst so oft das Gefühl, sich verteidigen, erklären oder rechtfertigen zu müssen. Er kann sich – getragen durch diese bedingungslose Annahme – mit sich selbst entspannen und fängt von alleine an, die freiwerdende Energie für ein konstruktives Herangehen an die Situation zu nutzen.
Am Ende machen wir eine Geschichte durch Empathie nicht wahr, sondern bieten dem anderen eine wirksame Unterstützung, um selber aus der Geschichte auszusteigen!
Voraussetzung für diesen “Erfolg” ist, wie gesagt, die wertfreie und wohlwollende Grundhaltung, die der Zuhörende mitbringt. Wenn du mehr darüber wissen willst, dann lies hier den ergänzenden Artikel “So geht empathisches Zuhören”.
Ich hoffe, mit diesem Beitrag zu einem besseren Verständnis von empathischem Zuhören beigetragen zu haben. Ich würde mich freuen, zu hören, was du darüber denkst!
Kendra Gettel
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Ich mache auch sehr gute Erfahrungen mit dem empathischen Zuhören – vor allem bei Kindern. Die Wut verschwindet schnell, macht Frust, dann Trauer oder Enttäuschung Platz und dann ist das Kind meist schon wieder bereit, sich etwas Interessantem zuzuwenden. Einmal die Gefühle gefühlt und losgelassen und weiter geht´s 🙂
Danke, Petra – ein guter Hinweis für die Eltern hier 🙂
Ich mache auch sehr gute Erfahrungen mit empathischen Zuhören und freue mich zu sehen, wie meine Kinder merken, dass sie damit anderen Kindern helfen können. Um mit meiner Empathie ernst genommen zu werden, sollte ich selber nicht allzu emotional reagieren. Der Kontrast zwischen Empathie und Selbstregulation macht misstrauisch. Ich versuch zu meditieren und dann zu reagieren. Kinder die in einer achtsamen Umgebung aufwachsen haben sicher einen Vorteil. Allgemein der Kontrast von Ignoranz und Empathie in unserer Sozialisation macht misstrauisch. Man braucht viel viel Selbstvertrauen.
Hallo Jens, es macht mein Herz ganz warm, zu lesen, wie du sehen kannst, dass deine Kinder mit Empathie anderen Menschen helfen können. Das hört echt nach Sternstunden des Elternseins an 🙂 Danke fürs Teilen!
Kendra
Liebe Kendra,
hab` herzlichen Dank für diesen Artikel. Mir gefällt das Beispiel sehr und auch das “aufräumen” hinsichtlich der Bestätigung einer Sichtweise ist hilfreich und wichtig, finde ich.
Liebe Grüße,
Melanie
Liebe Melanie, es freut mich zu hören, was du hilfreich findest! Danke für deinen Kommentar!
Kendra
das was ich da oben als “emphatisch” lese, ist aus meiner Erkenntnis bestenfalls ein GfK Dialog. Empathie ist volle presents und daraus heraus zuhören, bis die Person für sich selbst zu einem Punkt kommt es zu beenden. Dazwischen reden mit was auch immer wirft die Person aus dem heraus was Empathie ist; sich seiner selbst klarer und bewusster zu werden. Jedes Wort das in dieser Zeit von aussen eingebracht wird bringt die Person von seinen eigenen inneren Weg ab. Das einzige was dem widerspricht ist die Person zu unterstützen zu erkennen falls sie in die Vergangenheit reist, oder sich im inneren Dialog mit einer anderen Person beschäftigt. Länger als daraus eine kurze Erkenntnis abzurufen, da kann unterbrochen werden um der Person zu helfen wieder zu ihrer eigenen inneren Selbsterkenntnis zu finden. Dies kann dann -eventuell die Person zu neuen Strategien führen um eigenen Bedürfnisse zu erfüllen.
Menschen die durch Empathie unterstützen wollen und denken sie können durch eigene Impulse ganz gleich welcher Art oder mit welcher Absichtlich immer der Person “helfen, unterstützen” , bringen einzig ihre Weltanschauung und Vorstellungen ein. Ob das dann wirkliche Empathie ist??
Kommt wohl, wie meist, darauf an ob eine klare, allgemein gültige Definition für Empathie bekannt und genutzt wird. Duden? Wiki?
Für mich die treffendste habe ich bei J. Krishnamurti und meine persönlichen Gesprächen und in Seminaren mit Marshall Rosenberg entdeckt, kontempliert und obige in a climps formuliert.
Hallo Nicolay,
danke für deine Ergänzungen. Ich stimme dir zu, dass Empathie u.a. volle Präsenz ist. Deine Definition von Empathie kann ich voll unterstreichen, ich bin deshalb gerade verwirrt über deinen Kommentar, in dem sagst, das, was ich beschreibe, sei keine Empathie.
Hast du meinen anderen Artikel zu Empathie gesehen – So geht empathisches Zuhören?
Dort beschreibe ich mein Verständnis von Empathie genauer: Nicht-Urteilen, Wohlwollen, Vertrauen, dass der andere die Lösung weiss, Verbindung über Belehrung stellen, auf die eigene Intuition hören. Vielleicht bringt das mehr Klarheit.
Es scheint, du hattest bei dem Dialog aus diesem Artikel den Eindruck, ich würde das Gespräch durch meine Impulse lenken und den Prozess unterbrechen? Magst du mir beschreiben, was genau du meinst?
Danke und Gruss,
Kendra
Hallo Nicolay,
auch ich danke dir für deinen reflektierten Kommentar.
Wie schnell haben wir “unseres” hineingebracht, und dadurch aus seinem eben unseres gemacht – das ist mit Sicherheit keine Empathie.
Ich glaube, die Worte, die Kendra benutzt hat, dienten eher dazu, ein Gefühl für den Erzähler der Baumgeschichte zu bekommen. Irgendwo ist doch – zumindest der Anfang davon – Empathie, die Gefühle des anderen nachvollziehen, wenn nicht sogar nachfühlen zu können…
Letztendlich ist Emapthie für mich, durch den Schleier der Geschichte und des Leidens auf die wahre Natur des anderen zu sehen – und somit auf seine Unschuld. Wenn ich das tue, wird auch er irgendwann dahinkommen, die Unschuld in sich zu entdecken!
Dann haben wir Weltbilder, Meinungen und jegliche Kontrolle hinter uns gelassen, denn dann haben wir uns in einer – wenn man es so nennen will – heiligen Beziehung in Gott verbunden…
Dies ist mein Ziel mit jedem Menschen (nicht, dass es mir immer gelänge .-).
Ich wünsche dir alles Gute, Nicolay, und nochmals Danke für dein Input!
Armin
Ich denke, dass es zig Wege gibt, um jemandem Empathie entgegenzubringen. Der obige ist auch richtig, wenn er jemandem liegt. Mir läge er nicht und ich mach das eher intuitiv und neige dann dazu, zu spiegeln (also die Wut etc.). Es geht ja darum, dem anderen MENSCHEN zu begegnen und ich denke, da gibts viele Möglichkeiten, der wichtige Punkt ist die Intention des “Empathen”. Wie würde ein Kind mit dem Nachbarn reden? Auch interessant.
Wie auch immer, echte Empathie macht die Geschichte NICHT wahr, sondern die Erfahrung, geliebt zu sein. Ausdruck von Empathie ist SEHR individuell. Ich würde das nicht von MIR sondern vom ANDEREN abhängig machen, wie ich auf ihn/sie eingehe. Dazu brauch ich (zumindest) die Freiheit des Seins und DAS empfinde ich als DIE Herausforderung ,um Menschen zu begegnen. lieben Gruß (:
Hallo Kris,
danke für deinen Hinweis, dass echte Empathie einem die Erfahrung gibt, geliebt zu sein. Ja! Das empfinde ich auch so. Und auch, dass es letztlich dafür kein “Rezept” gibt und man auf jeden individuell eingehen kann – das mache ich auch so. Mir hat es für den Anfang sehr geholfen, mich an die von der GFK empfohlenen Schritte zu halten, vor allem, um das rauszuhalten, was keine Empathie ist ;-). Mit der Zeit wird es dann eher Freestyle, würde ich sagen, weil man weiss, worauf es ankommmt – danke, dass du das angesprochen hast!
Liebe Grüsse, Kendra