Trauen wir uns nicht mehr, uns einander zu zeigen?

Benutzen wir spirituelle Konzepte, um uns voneinander abzutrennen?

Vor einiger Zeit bekam ich (Kendra) eine E-Mail von einer Freundin. Sie schrieb, dass sie sich manchmal in unserem spirituellen Freundes- und Bekanntenkreis gar nicht mehr traue, zu sagen, wie es ihr gehe, weil alle scheinbar dauernd “im Licht und glücklich” seien, nur sie nicht. (Also nicht immer.)

Etwa zu derselben Zeit schrieb ich einem “spirituellen” Coach eine Mail, in der ich meinen Ärger und meine Urteile über ihn nach einem Telefonat offenlegte. Ich hatte ihm beschrieben, wie ich mich fühle, wie es sich in meinem Körper anfühlt und was meine Urteile über ihn sind.

Ich hatte irgendwie erwartet, dass er registrieren würde, dass ich ja nicht geschrieben hatte: “Du bis soundso”, sondern “Mein Urteil über dich lautet” – eben ein Urteil, und ich drücke es aus, um in Dialog zu kommen und die Wahrheit dahinter zu finden.

Aber ich hatte mich getäuscht. Als Antwort bekam ich unter anderem, meine Mail sei ja “ätzend”, und unser Kontakt ende hiermit.

Mit etwas Abstand gebe ich zu, ich hatte mich nicht auf die allererleuchtetste Art verhalten. Richtig. Ich hatte es nicht geschafft, die Sache zu vergeben und über dem Verhalten dieses Mannes zu stehen. Ich nahm es persönlich, und es tat weh. Ja.
Ich hatte “nur” das zweitbeste getan, nämlich zu meinen verletzten Gefühlen zu stehen, noch einmal auf ihn zuzugehen und mich mit allem zu zeigen, was gerade in mir los war, um eine Klärung herbeizuführen. Und ja, mir insgeheim gewünscht, er würde mich ein Stück weit verstehen und mir entgegenkommen.

Doch das ist genau der Punkt, auf den ich hinauswill:

Dürfen wir jetzt nicht mehr echt sein?
Sollen wir alle so tun, als ob Frust, Ärger, Wut etc. nicht mehr da sind, obwohl sie es sind? Müssen wir jetzt alle eine neue Maske aufsetzen? Dürfen Missstimmigkeiten nicht mehr angesprochen und miteinander geklärt werden? Sind “negative Gefühle” ein Ausschlussfaktor aus der Gemeinschaft?

Wir reden viel davon, dass Ärger Projektion ist und man ihn vergeben sollte, die Welt und der Körper sowieso nicht echt sind und die Liebe das einzige, was es gibt. Richtig.
Aber: Wie du sicher auch schon erfahren hast, schreckt das Ego nicht davor zurück, sich auch spirituelle Konzepte und Wahrheiten einzuverleiben und zweckzuentfremden, um damit die Trennung zwischen uns weiter zu vergrößern, anstatt sie abzubauen.

Und wenn wir einem Bruder oder einer Schwester gegenüber, in deren Erfahrung Ärger, Probleme oder Schmerzen auftauchen, spirituelle Wahrheiten “Alles ist gut, wie es ist!”, “Das ist dein Thema!” oder “Vergib es!” vorhalten, ohne ihm oder ihr einfühlsam Raum zu geben und ihm eine Brücke zu bauen – sind wir dann wirklich von Liebe und Wahrheit inspiriert, oder nicht doch manchmal dem Ego auf den Leim gegangen?

Machen wir mit so etwas das Einssein erlebbar, oder verstärken wir nicht vielmehr das Gefühl der Trennung?

Öffnung oder Abwehr?

Macht derjenige den Ärger wahr, der ihn fühlt und ausspricht, oder derjenige, der davon nichts hören will, weil er ihn offensichtlich als Problem sieht?

Es ist sicher eine Gratwanderung dazwischen, sich authentisch und verletzlich mit seinen Gefühlen zu zeigen und Ärger dazu benutzen, die eigenen Projektionen zu rechtfertigen und nicht bei sich selbst hinschauen zu müssen.

Darum gilt es, sich in jeder Situation zu fragen: Was ist meine Absicht?
Will ich den scheinbaren Graben zwischen mir und einer Schwester/ einem Bruder überbrücken, indem ich meine Gefühle offenbare, oder will ich sie oder ihn ins Unrecht setzen?

Ich glaube, das wir sowohl als der, der ein unangenehmes Gefühl zum Ausdruck bringt, als auch als der, dem gegenüber es zur Sprache kommt, unsere Haltung überprüfen müssen.

In der einen Rolle ist es meine Verantwortung, meine Gefühle auf nicht- angreifende Weise mitzuteilen.
In der anderen Rolle ist es meine Verantwortung, so weit wie mir möglich einfühlsam zu sein und das Verhalten des anderen nicht als Angriff, sondern als Hilferuf zu interpretieren. Und auf diesen Hilferuf angemessen zu antworten.

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Bildquelle: Pixabay

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